Vom ganz normalen Alltagswahnsinn…
Es begann alles ganz harmlos:
Als ich an einem Sonntagabend im April aus einem Urlaub zurückkehrte, bemerkte ich, dass mein 400-Liter-Aquarium tropfte. Trotz dass ich es gut versichert hatte, war ich doch sehr beunruhigt.
Noch in der Nacht recherchierte ich im Netz und entschloss mich für ein Aquarium-Modell, das ich gleich am Montag in der Früh kaufen wollte.
Montag fuhr ich also als erstes in ein Zoofachgeschäft. Eine gute Beratung bestätigte mein nächtliches Rechercheergebnis. Prima, dachte ich, das geht fix. Das kaufe ich!
Doch so einfach ging es dann doch nicht: Ein Aquarium dieser Größenordnung halte heutzutage niemand mehr vor, das verstehe doch jeder, bei den Lagerhaltungskosten. Aber ich könne das Aquarium natürlich online bestellen, das sei ja überhaupt kein Problem.
Ich entschuldigte mich und telefonierte die Zoocenter Berlins der Reihe nach ab. Berlin ist ja schließlich eine Großstadt und irgendwer wird doch dieses Aquarium vorrätig haben. Das nahm ich an – und wurde in wenigen Minuten eines Besseren belehrt.
Online einkaufen ist super einfach…
Also doch die Online-Bestellung.
Beratung vor Kauf und eine Telefonnummer fand ich auf den Internetseiten des Zoofachgeschäfts, in dem ich mich zuvor hatte persönlich beraten lassen. Doppelt hält besser, dachte ich, und rief an. Ausführlich schilderte ich die kniffelige Situation, in der ich mich befand, und erkundigte mich nach dem Erfüllen meiner Prioritäten:
- Schnelle Lieferung, denn schließlich stand das alte Aquarium vor dem Aus
- Anlieferung mit zwei Personen, denn ich wohne im 4. Stock – natürlich ohne Fahrstuhl
Das ist überhaupt kein Problem, versicherte der junge Mann in der Beratungshotline und erklärte mir, wie ich die Bestellung auszufüllen habe. Sicherheitshalber behielt ich ihn dabei gleich in der Leitung, um alles richtig zu machen. Schließlich war es geschafft.
Es war Montagabend.
Schon am darauffolgenden Mittwoch meldete sich die zustellende Spedition. Wann denn geliefert werden könne? Freudig überrascht, dass es tatsächlich schnell ging, vereinbarte ich einen Termin. Bald brauchte ich also nicht mehr um das Aquarium schleichen und es argwöhnisch beobachten. Bald war das Neue da. Bald war diese Herausforderung gemeistert.
Bevor ich das Telefonat beendete, erkundigte ich mich eher beiläufig nach den zwei Personen, die mir das neue Aquarium sicher in die Wohnung tragen würden.
Stille in der Leitung.
Dann die Frage:
Wieso zwei? Es wird einer kommen und Ihnen das Aquarium per Bordsteinkante liefern.
In mir machte sich leichte Panik breit.
Es folgte ein längeres Gespräch, in dem mir ausführlich erklärt wurde, wie meine Online-Bestellung funktioniere:
Ein Online-Zoofachgeschäft hat genau wie der stationäre Handel ebenfalls keine Aquarien-Lagerhaltung. Es bestellt beim Aquarium-Zwischenhändler, der die Ware ordert. Wenn das Aquarium bei ihm (dem Zwischenhändler) eintrifft, wird eine große Spedition vor Ort beauftragt (in meinem Fall München). Diese große Spedition gibt das Aquarium weiter an eine andere Spedition (Subunternehmer). Diese wiederum verteilt den Auftrag dann an eine Spedition am Ort des Empfängers (Subsubunternehmer).
Service-Wüste überall!
Na prima!
Ich telefonierte mich also rückwärts durch diese Kette, hatte ich die Bestellung doch nachweislich korrekt vorgenommen: Vom Subsubunternehmer zum Subunternehmer. Vom Subunternehmer zur Hauptspedition. Von der Hauptspedition zum Aquarium-Zwischenhändler.
Jeder hatte die korrekte Bestellung mit den 2 Personen auf dem Tisch. Niemand konnte (oder wollte?) mir erklären, an welcher Stelle aus zwei Personen eine wurde. Jeder fühlte sich nicht zuständig und verwies mich an das Online-Zoofachgeschäft. Also wagte ich einen letzten Versuch und rief dort an.
Dort wurde mir lapidar erklärt, dass der Kollege – erinnern Sie sich bitte an Beratung VOR Kauf – falsch beraten habe. KULANZ halber sei man allerdings bereit, die Bestellung zu stornieren. Oder aber ich bezahle 150 € extra für den Transport in den 4. Stock. Dann allerdings müsse man allerdings eine andere Spedition beauftragen (Subsubsubunternehmer!), denn man brauche dann ein Spezialfahrzeug (wieso ein anderes Fahrzeug wegen EINES zusätzlichen Menschen?) und das könne dauern.
Sorgenvoll schaute ich auf mein tropfendes Aquarium.
Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende!
Ich stornierte und bestellte sofort danach bei einem anderen Online-Händler das von mir gewählte Aquarium-Modell. Dieses Mal ließ ich mir die zwei Zusteller und den Transport in den 4. Stock vor Kauf schriftlich bestätigen. Nach ein paar Minuten kam die Mail und ich orderte zum zweiten Mal.
Es war Mittwochabend.
Donnerstag und Freitag schaute ich in immer kürzeren Abständen in den Online-Bestellvorgang, der nur den Status in Bearbeitung auswies. Freitagnachmittag dann mein erster Anruf, was denn wann als nächstes geschähe.
Die Callcenter-Dame erklärte mir freundlich, dass die Bestellung dauern könne, schließlich sei das Aquarium gerade erst im Ausland angefordert worden. Im Ausland angefordert? Ein deutsches Qualitätsprodukt, das in Deutschland hergestellt wird? Wie konnte das denn sein? Ich verwies auf die Beratung vor Kauf und das es sich um eine Express-Bestellung handele. Tja, meinte sie, da habe sich der Kollege wohl geirrt, Aquarien könne man gar nicht Express liefern.
Es war Freitagabend.
Die Gedanken sind frei?
In meinem Kopfkino überschlugen sich katastrophale Ereignisse: Mein altes Aquarium würde bestimmt keinen Tag mehr halten und in den nächsten Stunden platzen. All meine Fische müssten sterben. Meine Nachbarn würden nie wieder mit mir reden, lief doch mein Aquariumswasser in Strömen von ihrer Decke und ihren Wänden. Und ganz sicher würde sich die Versicherung weigern zu zahlen.
Völlig panisch kaufte ich noch am Freitagabend ein 100-Liter-Notaquarium mit allem Zubehör, trug es mit meiner Nachbarin in den 4. Stock und baute es auf. Ich ließ Wasser ein, setzte die Pumpe in Gang und packte ein paar Wurzeln hinein. Dann setzte ich die Fische um und leerte danach das leckende Aquarium.
Nach etlichen Stunden war es geschafft.
Da war es Samstagmorgen, 3.30 Uhr.
Warten auf Godot…
Die nächsten Tage passierte – nichts.
Ich schaute inzwischen bereits mehrmals stündlich in den Bestellvorgang und rief mindestens drei Mal täglich beim Online-Zoofachgeschäft an. Immer wieder mit der gleichen Geschichte, immer wieder mit anderen Callcenter-Mitarbeitern. Von bedauernd-mitfühlend bis unfreundlich-pampig, ich hatte alle Service-Varianten in der Leitung.
Nur tat sich einfach nichts.
Am Donnerstag endlich die erlösende Nachricht: Das Aquarium solle nun bald zugestellt werden.
Misstrauisch klickte ich auf das Lieferdatum – 12. Mai.
Das war noch eine ganze Woche, die ich warten sollte!
Die Krise
Am Freitagabend begann das große Fischsterben im kleinen Notaquarium. Es begann mit den Neons, es folgten die Sumatrabarben, dann einer des Skalar-Pärchens (6 Jahre), dann beide Prachtschmerlen (10 Jahre).
Waben-Schilderwels Jonathan (27 Jahre) verweigerte sein Futter.
Stattdessen versuchte er, im Halbstundentakt aus dem Becken zu springen. Mich quälte die Angst, ihm beim Sterben zuschauen zu müssen.
Emotionaler Höllenritt.
Montagfrüh rief ich völlig verzweifelt meinen Tierarzt an, wohlwissend, dass er keine Fische behandelt. Das war mir egal, ich wusste nicht mehr weiter und brauchte dringend Hilfe.
Die Hilfe kam mit der Information, dass es in Berlin einen Tierarzt gäbe, der sich ausschließlich (!!!) um Fische kümmere. Davon hatte ich noch nie gehört. Hoffnung keimte auf.
Sofort rief ich in der Zierfischpraxis an und bekam noch am gleichen Abend einen Termin. Um 19 Uhr befüllte ich eine Plastikschüssel mit Wasser, packte Jonathan hinein und fuhr zur Praxis.
Dort erfuhr ich nicht nur, dass sich Jonathan durch seine endlosen Ausbruchsversuche viele Wunden zugezogen hatte, sondern auch, dass er vollständig vergiftet sei. Völlig fassungslos sah ich zu, wie seine Wunden desinfiziert wurden. Noch am gleichen Abend begann für alle Überlebenden im Notaquarium eine 6tägige Entgiftungskur, die dem Sterben endlich ein Ende setzte.
Wenig später kam dann auch endlich das neue Aquarium…
Die Krise ist überstanden – und nun?
Krisen und Herausforderungen belasten jeden Menschen ungeheuer.
Das habe ich durch diese Geschichte gerade erst wieder einmal selbst erfahren dürfen.
Krisen sind allerdings auch immer Chancen.
Ich gehe sogar noch etwas weiter, indem ich behaupte:
Eine Krise ist nicht nur eine Chance, sondern oft auch ein Geschenk. Share on X
Zum Geschenk wird eine Krise für mich immer dann, wenn ich es schaffe, einen Sinn darin zu finden. Dabei orientiere ich mich an Viktor E. Frankls Worten:
Das Leben selbst ist es,
das dem Menschen Fragen stellt.
Er hat nicht zu fragen,
er ist vielmehr der vom Leben her Befragte,
der dem Leben zu antworten –
das Leben zu ver-antworten hat.
Sinn versteht sich dabei nicht religiös.
Sinn besteht vielmehr darin, dass durch das Finden der Antworten auf die Fragen, die mir das Leben (auch in Form einer Krise) stellt, persönliches Wachstum passiert. Im Finden der individuellen Antworten wird die Krise bedeutsam, ins Leben integriert, verarbeitet und zum Bestandteil der eigenen Lebensgeschichte.
Natürlich fällt es nicht immer leicht, in einer Krise eine Chance, geschweige denn ein Geschenk zu sehen.
Als ich meinen Fischen beim Sterben zusah, habe ich noch nicht einmal darüber nachgedacht. Ich fühlte mich nur hilflos, unendlich traurig und verzweifelt. Die Situation zehrte an meiner Substanz. So erschöpfte ich mich darin, einfach einen Tag nach dem anderen überhaupt zu überstehen.
Mit der Zeit und mit Unterstützung von anderen fand ich jedoch zurück in die Kraft und Orientierung, um meinen Sinn in der scheinbaren Sinnlosigkeit zu entdecken. Ich habe inzwischen für mich erste Antworten gefunden und lerne aus ihnen:
- … dass mir zwar mein optimistischer Blick auf das Leben abhanden ging, als das Sterben begann. Dennoch habe ich mein Grundvertrauen immer gespürt, da ich mir ständig mein „Krisen-Mantra“ innerlich vorsagte.
- … dass ich mich immer noch viel zu sehr aufrege, wenn ich auf ignorante Mitmenschen treffe. Hier gilt es, meinen Akzeptanzbereich besonders zu trainieren.
- … dass ich mich für die Zukunft mit einer to-do-Liste für alle Aktivitäten wappne, die eine zweite Situation wie die eben erlebte verhindert und deshalb regelmäßig abgearbeitet wird. Das ist mein lösungsorientierter Lernerfolg.
- … dass ich stolz darauf sein darf, in keinem Moment in eine Opferrolle gerutscht zu sein, und dass ich stolz darauf sein darf, wie viel ich probiert habe, um die Situation zum Positiven zu wenden.
- … dass ich künftig noch schneller andere um Hilfe bitte und so die Tragfähigkeit meines sozialen Netzes noch intensiver erlebe.
- … dass ich ziemlich widerstandskräftig bin.
Was es mit dem „widerstandskräftig“ auf sich hat, das erfahren Sie in der nächsten Ausgabe meiner SINNergie-Nähkästchen-Plaudereien, wenn Sie sich in meinen Verteiler eintragen.
Zum Schluss nur noch mein ganz persönliches „Krisen-Mantra“:
Alles hat seinen Sinn, nur kann ich den jetzt noch nicht verstehen. Share on X